"Gefangen im Zwielicht" wird mit fast dreißig Seiten mehr Inhalt neu aufgelegt - Termin steht noch keiner fest. :) Ich möchte Euch hier den (noch unkorrigiert!) Prolog und das erste Kapitel präsentieren - viel Spaß!
Prolog
Alexei
stand im Schatten einer großen Eiche und beobachtete die Kinder bei ihrem Fußballspiel.
Der Junge mit dem blonden Stoppelschnitt und dem fröhlichen Lachen war auch
wieder da. Immer wieder huschte der Blick des Kleinen zu Alexei hinüber, aber
nur seiner. Für die anderen Kinder schien er unsichtbar zu sein. Auch die
wenigen Erwachsenen am Spielfeldrand, von denen einige unmittelbar neben ihm
standen, schienen ihn nicht sehen zu können. Ein paar Mal musste Alexei sogar zur
Seite springen, damit ihn niemand über den Haufen rannte.
Obwohl
der Junge nicht älter als zehn oder elf Jahre alt sein konnte, wirkte er sehr erwachsen.
Eindeutig nahm er das Spiel sehr ernst. Seine blauen Augen blitzten wütend auf,
während er seine Kameraden zur Ordnung rief, weil sie herumalberten und nicht richtig
bei der Sache waren. Er stand in dem improvisierten Tor aus zwei am Boden
liegenden Jacken und ging in Position. Doch als er wiederholt zu Alexei
hinübersah, zuckte er plötzlich erschrocken zusammen. Mit weit aufgerissenen
Augen rief er ihm etwas zu, das wie eine Warnung klang. Alexei konnte ihn
hören, verstand jedoch nichts davon. Als würde der Raum zwischen ihnen Teile
der Worte verschlucken. Panik stand im Gesicht des Kindes geschrieben, die auch
ihn selbst rasch ergriff. Das Fußballspiel war offensichtlich vergessen, als der
Junge auf Alexei zu rannte und die Hand nach ihm ausstreckte.
Alexei war unfähig, sich zu bewegen, als
hielten ihn unsichtbare Arme mit Gewalt zurück. Da begann der Junge zu weinen.
Heftige Schluchzer schüttelten ihn. Die Wangen waren gerötet, seine blauen
Augen von Schmerz erfüllt. Er lief schneller und konnte Alexei dennoch nicht
erreichen. Eine gewaltige Macht hielt die beiden auseinander.
Und
dann kam der schwarze Nebel. Eine dichte, wabernde Wand, die beide voneinander
trennte, und alles in ihrem riesigen Schlund verschlang. Die Bäume, den Himmel und
die Sonne. In ihrem letzten Strahl stand der Junge, die Arme um sich selbst
geschlungen, als spüre er die Gefahr, die im Dunkeln lauerte.
Auch
Alexei hatte Angst im Dunkeln. Immer schon. Ein Blitz durchbrach die schwarze
Nebelwand, und er wusste, was als nächstes passieren würde. Das gleißende Licht
schillerte zuerst weiß, dann blau und schließlich blutrot, als sich das Licht im
Rubin des Siegelringes brach, der für einen Moment vor seinem Gesicht auftauchte.
Ein goldener, auffälliger Siegelring, auf dem in goldenen Lettern ein „W“
eingraviert war. Und wieder hallte dieses irre, triumphierende Lachen durch die
Finsternis, die Alexei nun endgültig verschluckte…
Alexei
erwachte durch seinen eigenen Schrei und saß aufrecht im Bett. Sein Herz raste
und die Lungen schmerzten unter seinen heftigen Atemzügen. Warum nur quälte ihn immer wieder
derselbe Traum? Undefinierbare Gefühle der Sehnsucht und der Schmerz von
Verlust ergriffen Besitz von ihm. Er strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn,
während sein Blick auf den Digitalwecker fiel. Die grün leuchtenden Ziffern
sprangen gerade auf 17:18 Uhr. Höchste Zeit, aufzustehen.
1
Leon
und sein Vater saßen gemeinsam mit ihrem potenziellen Geschäftspartner im
Konferenzraum. Es kam nicht so oft vor, dass sie beide bei einem Angebot dabei
waren, aber dieser Zenker hatte nicht gerade das, was man einen guten Ruf
nannte. Also beobachtete Leon den Kerl ganz genau. Bevor er eingetreten war,
hatte er vor der Glastür innegehalten und den Knoten seiner Designerkrawatte
zurechtgerückt. Nun saß er da und Leon war gespannt, was der Typ zu sagen
hatte. Zenker kämmte sich mit den Fingerspitzen durch das Haar, während er sich
scheinbar interessiert umsah. Sein Blick blieb einen Moment an der auffälligen Kommode
hängen, bevor er sich Leons Vater zuwandte.
„Das
ist ein schönes Stück, das sie da stehen haben, Herr Bergmann. Ist das
Teakholz?“, fragte er mit einem Kichern, das völlig fehl am Platz war, und gelbe,
etwas schief stehende Zähne offenbarte. Leon fand, der Kerl hatte Ähnlichkeit
mit einer Hyäne, so wie er den Kopf vorschob, während er die Schultern nach
oben zog. Und dann dieses irre Kichern dazu.
Leons
Vater schien sich nicht so daran zu stören und nickte stolz.
„Malaysia,
Achtzehntes Jahrhundert“, bestätigte er mit leuchtenden Augen. „Zwei der
Goldgriffe musste ich allerdings ersetzen lassen. Ich habe das bauchige Ding
auf einer meiner Reisen gekauft.“
Leon
lächelte und seine Gedanken schweiften kurz ab. An den Urlaub konnte er sich
nur allzu gut erinnern. Es war der erste mit seiner Stiefmutter und auch einer
der schönsten. Vater und Ines händchenhaltend am weißen Sandstrand, der Geruch
des Meeres. In seinem Kopf hallten fröhliches Kinderlachen und das Kreischen
der Möwen, als wäre es erst gestern gewesen. Leon war acht Jahre alt und in
diesen Wochen wohl das glücklichste Kind auf der Welt. Vielleicht wäre er sogar
noch glücklicher gewesen, hätte er nicht diese braune Badehose tragen müssen,
auf der leuchtend gelbe Bananen abgebildet waren. Womöglich trug aber auch
gerade diese Erinnerung dazu bei, dass der Urlaub so unvergessen geblieben war.
Am letzten Tag hatte er die Bananenbadehose am Strand vergraben und vorgegeben,
sie verloren zu haben.
Zenker
räusperte sich, seine für einen Mann ungewöhnlich hohe Stimme riss Leon aus seinen
Erinnerungen.
„Kommen
wir zum geschäftlichen Teil, meine Herren.“ Wieder ein Hyänenkichern. „Ich
möchte Sie nicht drängen, aber ich habe noch weitere Interessenten für das
Haus. Ein solch lukratives Angebot bekommen Sie nicht alle Tage.“ Er entblößte
seine gelben Zähne zu einem schleimigen Lächeln und kritzelte etwas auf einen
Block, den er – zusammen mit einem Laptop - aus seiner Aktentasche entnommen
hatte. Dabei zuckte er flatternd mit dem Bein, so dass der große Tisch und sein
Laptop, das er gerade aufklappte, vibrierten. Leon warf seinem Vater möglichst
unauffällig einen warnenden Blick zu, worauf er nickte. Sie verstanden einander
auch ohne Worte, waren längst ein eingespieltes Team. Beruflich ebenso, wie privat.
„Geben
Sie uns bis morgen Bedenkzeit, Herr Zenker“, bat er höflich.
Zenker
schüttelte energisch den Kopf, das Zucken seines Beines wurde stärker.
„Ich
fürchte, Sie werden sich gleich entscheiden müssen. Ich treffe heute noch zwei
weitere Interessenten.“
Leon
straffte die Schultern und atmete tief ein. Der miese Typ log, dass sich die
Balken bogen. Aber da war noch mehr als das schmutzige Geschäft, an das er die
ganze Zeit gedacht hatte. So laut, dass Leon es nicht einmal hätte überhören
können, wenn er es gewollt hätte. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Haus.
Etwas, das über bloße Gebrauchspuren hinausging.
Bei
der Besichtigung war nur sein Vater dabei gewesen, doch Leon konnte in diesem
Augenblick trotzdem sehen, was hier faul war. Und zwar faul im wahrsten Sinne des Wortes.
Er
war bereits vor einigen Minuten in Zenkers Geist eingedrungen, und brauchte
nicht lange, um alles direkt vor sich zu sehen. Nur mit großer Mühe konnte er seinen
Zorn zurückhalten.
„Ich
würde gerne die oberen Stockwerke noch einmal sehen“, bemerkte Leon
zähneknirschend und wunderte sich über die Ruhe in seiner Stimme. Zenkers
Gesichtszüge entgleisten. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf das Holz des
Konferenztisches, seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Aber
warum denn das?“, stieß er schrill aus. „Ich
glaube kaum, dass dies nötig sein wird. Meine Mitarbeiterin hat Ihrem Vater
bereits alles gezeigt.“ Er tat sich sichtlich schwer, die Contenance zu
bewahren, und Leon hörte in seinem Kopf, was das Arschloch über das arme
Mädchen dachte, das keinen blassen Schimmer davon hatte, was für ein Verbrecher
ihr Chef war.
„Das
sehe ich anders“, entgegnete Leon so ruhig, wie es seine Wut zuließ und
lächelte so strahlend, wie Zenker zu Beginn ihres Gespräches. „Und wenn wir
schon dabei sind - die rostigen, mit schlechter Farbe übermalten
Wasserleitungen im Keller möchte ich auch sehen. Die brechen vermutlich
auseinander, falls eine der Ratten da unten einen Furz lässt.“
Aus
den Augenwinkeln sah Leon, dass die Schultern seines Vaters vor Lachen bebten. Die
Hyäne schnappte nach Luft und ihre Augen verdunkelten sich, als würden
Gewitterwolken darin aufziehen. In der Tat konnte Leon den Sturm schon spüren,
als Zenker ihn noch gar nicht realisiert hatte. Armer Idiot. Er hatte sich
einfach die Falschen ausgesucht. Aber
wie sollte er auch ahnen, dass Leon all die Dinge sehen konnte, die in seinem
Kopf vorgingen.
Zenker
zerrte an seiner Krawatte, als wäre sie eine Schlinge um seinen Hals.
„Ich
versichere Ihnen, das sind alles Kleinigkeiten, die werden selbstverständlich
noch instandgesetzt“, stotterte er wirr. Sein Hyänenkichern war ihm wohl im
Hals stecken geblieben. „Wie kommen Sie überhaupt auf ...“
„Etwa
wie der Dachboden?“, unterbrach Leon ihn. „Mein Vater berichtete mir, dass
alles noch etwas frisch aussieht. Als wäre es … sagen wir … vorgestern
mal eben mit Sandfarbe gestrichen worden?“
Zenker
quollen die Augen aus den Höhlen, seine Unsicherheit schwand und ging nahtlos
in Wut über.
„Jetzt
reicht es aber! Glauben Sie, ich habe meine Zeit gestohlen?“ Er sprang vom
Stuhl und griff nach seinem Block. „Das hab ich bestimmt nicht nötig.“
Oha,
die Hyäne wurde zum Tiger. Leons Vater blickte Zenker ruhig an. Nur das Zucken
in seinen Augenwinkeln verriet, dass er kaum noch an sich halten konnte.
„Beruhigen
Sie sich doch, Herr Zenker. Mein Sohn hat Sie doch nur um eine klare Auskunft
gebeten. Kein Grund, laut zu werden.“
„Von
wegen um etwas gebeten!“ Zenker fuchtelte wild mit einer Hand herum und warf Leon
einen wütenden Blick zu. „Das sind absurde Anschuldigungen! Mit solchen Leuten muss
ich keine Geschäfte machen!“
Wieder
eine glatte Lüge, aber die hätte jeder durchschaut, ganz ohne Gedankenlesen. Leon
erhob sich nun ebenfalls.
„Auf
Geschäfte mit Ihnen können wir verzichten“, sagte er unwirsch. „Sehen Sie lieber zu, dass Sie ihren Arsch
hier raus bewegen, bevor ich mich vergesse und Ihnen ihr Laptop hinein schiebe!“
„Leon.“
Sein Vater stand nun ebenfalls auf und warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Ist
doch wahr!“
Zenker
entgegnete nichts mehr. Er klappte den Laptop zu und stopfte ihn zusammen mit
dem Block zurück in den Aktenkoffer. Mit großen Schritten war er bei der Tür
und flüchtete ohne Gruß aus dem Konferenzraum.
„Dem
ist der Arsch aber gewaltig auf Grundeis gegangen.“ Leon lockerte seine Krawatte
und schüttelte seufzend den Kopf. „Den
sehen wir nicht wieder“, stellte er zufrieden fest.
Sein
Vater musterte ihn über die Gläser seiner Lesebrille hinweg.
„Ich
habe geahnt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt. Was hast du in seinen
Gedanken alles gelesen?“
„Eine
Menge. Mir ist ganz schlecht davon.“ Leon imitierte Kotzgeräusche. „Er kauft
halb verfallene Hütten und lässt sie durch Schwarzarbeiter dürftig sanieren. Die
Schäden sind sehr geschickt vertuscht und ausgebessert worden. Er verwendet die
billigsten Materialien, teilweise fehlerhafte Ware vom Schwarzmarkt. Natürlich
will er die Projekte dann so schnell wie möglich loswerden, damit er sich aus
dem Staub machen kann. Robert Zenker ist nur eines seiner Pseudonyme.“
Leons
Vater stieß geräuschvoll die Luft aus.
„So
ein Dreckskerl! Ich möchte wissen, wie viele Menschen dieser Gauner schon
reingelegt hat.“
„Das
willst du nicht, glaub mir. Aber nicht mit Bergmann Immobilien“, antwortete
Leon. „Das weiß ich zu verhindern.“
„Ohne
dein Eingreifen hätte ich das Haus womöglich gekauft“, stellte sein Vater
betroffen fest. „Du bist unglaublich.“
Leon
grinste. „Pass auf, sonst könnte ich mir noch was darauf einbilden.“
Sie
lachten beide auf.
„Na
komm, Mister Eingebildet. Wir haben einen Termin. Hoffentlich nicht noch so ein
Verbrecher. Einer am Tag reicht vollkommen.“
****
Eine
halbe Stunde später saßen Leon und sein Vater in ihrem gewohnten Geschäftsessen-Restaurant.
Leon zupfte gedankenverloren an den Spitzen des Mitteldeckchens, auf dem eine
Glasvase mit frischen Blumen stand. Das Restaurant war im Stil der dreißiger
bis vierziger Jahre eingerichtet, an den Wänden prangten in Gold gerahmte
Bilder von Ikonen dieser Zeit, wie Edith Piaf, Humphrey Bogard oder Hans
Albers. Leon bevorzugte privat coolere Kneipen wie „Dee´s Bar“ oder das
„Underground“, aber ihm war natürlich klar, dass man dort schlecht Geschäfte
abschließen konnte. Außerdem konnte er sich seinen Vater nur schwer in einer
Diskothek vorstellen, in der halbnackte Frauen zu Technomusik in Käfigen
tanzten.
„Leon.
Hörst du mir überhaupt zu?“
Leon
zuckte zusammen und blickte ihn über den Tisch hinweg an.
„Entschuldige
Vater, hast du was gesagt?“
„Ich
sagte, dass ich sehr stolz auf dich bin und nicht wüsste, was ich ohne dich
täte. Der Vorfall heute war ja wieder mal Beweis genug. Ich mach das Geschäft
schon so lange, aber ich habe die Ausbesserungen wirklich nicht gesehen.“
Leon
winkte ab und klappte die Speisekarte auf.
„Für
irgendetwas muss meine Gabe ja schließlich gut sein“, antwortete er. „Zur Feier
des Tages darfst du mich zum Essen einladen. Ich hab einen Riesenhunger.“ Sein
Vater schüttelte belustigt den Kopf und wollte sich ebenfalls die Karte nehmen.
Dabei stieß er zwei Weingläser um, die klirrend davon rollten. Eines davon wäre
vom Tisch gefallen, wenn Leon es nicht gerade noch rechtzeitig gefangen hätte.
Er grinste, während sich sein Vater peinlich berührt umsah, und das andere Glas
wieder aufstellte.
„Das
ist nicht lustig, Leon“, sagte er streng, doch sein Tonfall wurde von einem
Lächeln um die Mundwinkel gemildert.
„Vielleicht
nicht lustig, aber typisch für dich. Du hättest dein Gesicht eben sehen sollen.
Bleib doch cool, Mann.“
Sein
Vater verdrehte die Augen und rieb sich den graumelierten Kinnbart.
Leon
lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück.
„Wer
ist eigentlich der Mann, der uns diesen Laden in der Oranienstraße verkaufen
will?“
Sein
Vater zuckte mit den Schultern.
„Ich
weiß nur, dass er Serban Grigorescu heißt, mehrere Immobilien hier in Berlin
besitzt, und im Stadtteil Grünwald lebt. Ich habe ein paar Mal mit ihm
telefoniert. Sein Sohn wollte an seiner Stelle kommen, weil er selbst einen
wichtigen Termin hat.“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „Er müsste jeden
Augenblick da sein.“
Leon
nickte und erhob sich.
„Würdest
du mir bitte einen trockenen Weißwein und ein Glas Wasser bestellen? Wir
sollten die Gelegenheit nutzen, solange die Gläser noch stehen. Ich bin gleich
wieder da.“
„Das
muss ich mir noch gut überlegen“, hörte er seinen Vater amüsiert antworten,
während er sich bereits auf halbem Weg zu den Toiletten befand. Eine Bedienung
kam ihm entgegen und lächelte ihm freundlich zu. Sie war hübsch, dunkle Locken
umrahmten ihr zartes Gesicht. Leon spürte, dass sie nervös war und konnte nicht
wiederstehen, ihre Gedanken zu lesen. Sie fand ihn süß … und sexy. Er grinste
in sich hinein. Besonders gefielen ihr seine blauen Augen und die Art, wie er sein
dunkles Haar trug. Wenn er an ihr vorbeigegangen war, wollte sie einen Blick
auf seinen Hintern werfen. Leon lächelte zurück, worauf sich ihre Wangen rot
färbten, dann unterbrach er rasch die Verbindung. Es war nicht fair, aber ab und
zu musste er einfach wissen, was in den Köpfen der Menschen vorging. Vor allen
Dingen beim weiblichen Geschlecht konnte er seine Neugier kaum zügeln.
Als
Leon wenig später zurückkam, saß sein Vater nicht mehr allein am Tisch. Er
unterhielt sich mit einem Mann, der nun aufsah und Leons Blick entgegnete. Der
Typ war ungewöhnlich blass, eine geheimnisvolle Aura umgab ihn. Leon war jetzt
schon gespannt auf seine Gedanken. Seltsamerweise war ihm, als wäre er ihm
schon einmal begegnet, doch an so einen Kerl würde er sich mit Sicherheit
erinnern. Trotz seiner Blässe sah er aus, wie einer dieser Typen, die für Unterwäsche
oder Parfüm warben. Seine Gesichtszüge waren weich und doch wirkte er sehr
männlich. Sein blondes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden,
gekleidet war er in einen cremefarbenen Anzug und ein schwarzes Hemd. Leons
kleine Schwester wäre sicherlich hin und weg von ihm gewesen.
„Darf
ich dir Alexei Grigorescu vorstellen? Seiner Familie gehört das Objekt, er wird
es uns nachher zeigen. Herr Grigorescu, das ist mein Sohn Leon. Er ist auch
mein Geschäftspartner.“ Sein Vater blickte zwischen ihnen hin und her.
„Guten
Tag, Herr Grigorescu.“ Leon streckte die Hand aus.
Alexei
Grigorescu erhob sich kurz und erwiderte den Gruß. Seine Hand war kühl, er
besaß einen kräftigen Händedruck.
„Freut
mich, Herr Bergmann“, erwiderte er mit einem Lächeln, das ebenmäßige, weiße
Zähne entblößte. Seine Stimme klang sehr tief, aber angenehm. Aus reinem Instinkt
heraus unternahm Leon ohne Umschweife den Versuch, in seinen Geist
einzudringen. Schneller als er erwartet hatte, entstand eine Verbindung, doch
plötzlich sah ihn der Kerl mit einer Mischung aus Erstaunen und Überraschung
an, in seinen grünen Augen blitzte es auf. Leon spürte einen unsichtbaren
Schutzwall, der sich um Grigorescus Geist legte. Es war nun unmöglich zu sehen,
was in seinem Kopf vorging.
Erschrocken
und etwas irritiert war Leon froh, als sich sein Vater sofort nach dem Gebäude
erkundigte. Die Bedienung kam an den Tisch und nahm die Bestellung auf. Ihre
Gedanken konnte Leon sofort wieder lesen und was sie über Alexei Grigorescu
dachte, war nicht mehr jugendfrei. Sie verdrehte sich fast den Hals nach ihm,
als sie ging, um die Bestellung abzuliefern.
Während
des Essens lag der Schwerpunkt der Unterhaltung auf dem Immobiliengeschäft und Leon
überlegte, ob er einen weiteren Versuch unternehmen sollte, in Grigorescus
Geist einzudringen. Vielleicht hatte er sich vorhin nur eingebildet, er würde ihn
mental abblocken? Wahrscheinlich war er nur unkonzentriert. Bisher war es Leon
immer gelungen, sich auf telepathischem Weg in die Gedankengänge der Leute
einzuschleichen. Grigorescu war offensichtlich ein hartnäckiger Fall.
Nach
dem Essen gingen sie zusammen die Papiere und Pläne durch und unterhielten sich
ungezwungen über verschiedene Themen. Die Grigorescus besaßen mehrere
Grundstücke und Gebäude in Berlin und im Ausland, die sie vermieteten und auch
teilweise zum Kauf anboten. Während des Gesprächs spürte Leon eine merkwürdige
Spannung. Grigorescu schien unnahbar und geheimnisvoll – und er beobachtete
Leon, wenn er dachte, er würde es nicht bemerken. Hatte er den mentalen Angriff
auf seine Gedanken doch bemerkt?
„Und
so haben wir uns entschlossen, das Gebäude zu verkaufen“, sagte Alexei gerade,
während sein stechender Blick auf Leon traf. Dieser hob sein Glas und fixierte
rasch das gerahmte Schwarzweißbild von Hans Albers.
„Er
war ein begnadeter Schauspieler“, bemerkte Alexei, der Leons Blick gefolgt war.
„Ich habe ihn einmal in Hamburg getroffen.“ Er nippte an seinem Rotwein und
grinste. „Ist jedoch schon eine ganze Weile her.“
Leons
Vater lachte über den Witz, und auch Leon konnte sich ein Grinsen nicht
verkneifen.
„Leben
sie schon immer in Berlin, Herr Grigorescu?“
„Ursprünglich
stammen wir aus Rumänien, wir kamen hierher, als ich noch ein Kind war.“
Während er sprach, hörte Leon in seinem Kopf
eine Stimme flüstern.
,Du bist hinreißend … und wunderschön.’
Leon
sah sich überrascht um und runzelte die Stirn. Wessen Gedanken hatte er denn
jetzt schon wieder versehentlich gelesen? Und wer redete heute noch so
geschwollen daher? Am Tisch neben ihnen saß ein älteres Paar. Links davon in
einer Ecke tuschelten drei Damen, die aussahen, als kämen sie gerade von einem
Treffen der unbefriedigten Hausfrauen. Sie tranken Prosecco und rauchten Kette.
Leon versuchte sich zu konzentrieren, wurde jedoch von seinem Vater
unterbrochen.
„Von
mir aus können wir uns das Gebäude jetzt gleich ansehen, Herr Grigorescu. Würde
es Ihnen etwas ausmachen, mit meinem Sohn schon mal vorzufahren? Ich muss noch
kurz etwas erledigen.“
„Kein
Problem. Sollen wir, Herr Bergmann?“ Alexei musterte Leon. Dieser blickte kurz
irritiert zu seinem Vater, nickte jedoch.
„Ähm…
ja, warum nicht.“
„Lass
dich von Herrn Grigorescu schon mal herumführen, ich komme sofort nach.“ Er ließ Leon gar keine Zeit zu antworten,
schnappte seine Autoschlüssel vom Tisch und nickte ihnen zu. „Kümmern Sie sich
nicht um die Rechnung, die ist schon bezahlt. Bis gleich, ich beeile mich!“,
rief er hektisch über seine Schulter und schon war er verschwunden.
„Ist
ihr Vater immer so impulsiv?“, erkundigte sich Grigorescu amüsiert. Leon zuckte
mit den Schultern und lächelte schief. Der Typ war irgendwie seltsam. Er konnte
höchstens vier oder fünf Jahre älter sein als Leon - also vielleicht dreißig - aber
er drückte sich aus, als stamme er aus dem vorletzten Jahrhundert. Mit einem
Mal war ihm eigenartig warm und er war froh, als sie kurz darauf auf die Straße
hinaus traten.
Viele
Menschen nutzten den ungewöhnlich warmen Spätsommerabend zu einem Spaziergang
und so waren die Straßen gesäumt von schlendernden Pärchen, lachenden Kindern
und Grüppchen von Jugendlichen. Alexei zog eine dunkle Sonnenbrille aus der
Brusttasche seines Jacketts.
„Kommen
Sie, mein Wagen steht dort hinten.“ Er deutete mit einer einladenden Geste die
Straße hinunter und setzte die Brille auf. Leon grinste in sich hinein. Die
Sonne war nicht mehr so stark, dass man eine Sonnenbrille brauchte, doch
wahrscheinlich wollte er auf cool machen. Kurz darauf saßen sie in Grigorescus
silberfarbenen Audi R8 auf dem Weg zu dem leer stehenden Geschäftsgebäude.
Unterwegs sprachen sie kaum ein Wort und Leon war froh darüber. Er fühlte sich
seltsam in der Nähe dieses Typen. Fremdartige Schwingungen umgaben ihn, die Leon
nicht deuten konnte. Die Tatsache, dass seine mentalen Fähigkeiten bei ihm
nicht funktionierten, machte ihn langsam nervös. Leon hatte eine dunkle
Vorahnung, was dies bedeuten konnte.
Alexei
schloss die Tür auf und bedeutete Leon, vor ihm einzutreten. Als Leon an ihm
vorbei ging, stieg ihm ein angenehmer Duft in die Nase. Noch nie zuvor hatte er
auf das After Shave eines anderen Mannes geachtet, geschweige denn, es
überhaupt wahrgenommen. Erneut fragte er sich, warum er Grigorescus Gedanken
nicht lesen konnte.
,Weil Sie nicht alles wissen müssen, Leon. Übrigens ist der Duft von
Karl Lagerfeld.’
Leon
stockte der Atem und er fuhr erschrocken herum. Alexei war gerade damit
beschäftigt, die Tür abzuschließen.
„Ich
hoffe das Tageslicht, das durch die Fenster dringt, genügt Ihnen. Der Strom ist
bereits abgeschaltet“, sagte er und wandte sich zu Leon um. Dieser starrte ihn
perplex an.