Donnerstag, 23. Juli 2015

Neuauflage "Gefangen im Zwielicht" Leseprobe Kapitel 1

Hallo Ihr Lieben! ;)

"Gefangen im Zwielicht" wird mit fast dreißig Seiten mehr Inhalt neu aufgelegt - Termin steht noch keiner fest. :) Ich möchte Euch hier den (noch unkorrigiert!) Prolog und das erste Kapitel präsentieren - viel Spaß!


Prolog

Alexei stand im Schatten einer großen Eiche und beobachtete die Kinder bei ihrem Fußballspiel. Der Junge mit dem blonden Stoppelschnitt und dem fröhlichen Lachen war auch wieder da. Immer wieder huschte der Blick des Kleinen zu Alexei hinüber, aber nur seiner. Für die anderen Kinder schien er unsichtbar zu sein. Auch die wenigen Erwachsenen am Spielfeldrand, von denen einige unmittelbar neben ihm standen, schienen ihn nicht sehen zu können. Ein paar Mal musste Alexei sogar zur Seite springen, damit ihn niemand über den Haufen rannte.
Obwohl der Junge nicht älter als zehn oder elf Jahre alt sein konnte, wirkte er sehr erwachsen. Eindeutig nahm er das Spiel sehr ernst. Seine blauen Augen blitzten wütend auf, während er seine Kameraden zur Ordnung rief, weil sie herumalberten und nicht richtig bei der Sache waren. Er stand in dem improvisierten Tor aus zwei am Boden liegenden Jacken und ging in Position. Doch als er wiederholt zu Alexei hinübersah, zuckte er plötzlich erschrocken zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen rief er ihm etwas zu, das wie eine Warnung klang. Alexei konnte ihn hören, verstand jedoch nichts davon. Als würde der Raum zwischen ihnen Teile der Worte verschlucken. Panik stand im Gesicht des Kindes geschrieben, die auch ihn selbst rasch ergriff. Das Fußballspiel war offensichtlich vergessen, als der Junge auf Alexei zu rannte und die Hand nach ihm ausstreckte.
 Alexei war unfähig, sich zu bewegen, als hielten ihn unsichtbare Arme mit Gewalt zurück. Da begann der Junge zu weinen. Heftige Schluchzer schüttelten ihn. Die Wangen waren gerötet, seine blauen Augen von Schmerz erfüllt. Er lief schneller und konnte Alexei dennoch nicht erreichen. Eine gewaltige Macht hielt die beiden auseinander.
Und dann kam der schwarze Nebel. Eine dichte, wabernde Wand, die beide voneinander trennte, und alles in ihrem riesigen Schlund verschlang. Die Bäume, den Himmel und die Sonne. In ihrem letzten Strahl stand der Junge, die Arme um sich selbst geschlungen, als spüre er die Gefahr, die im Dunkeln lauerte.
Auch Alexei hatte Angst im Dunkeln. Immer schon. Ein Blitz durchbrach die schwarze Nebelwand, und er wusste, was als nächstes passieren würde. Das gleißende Licht schillerte zuerst weiß, dann blau und schließlich blutrot, als sich das Licht im Rubin des Siegelringes brach, der für einen Moment vor seinem Gesicht auftauchte. Ein goldener, auffälliger Siegelring, auf dem in goldenen Lettern ein „W“ eingraviert war. Und wieder hallte dieses irre, triumphierende Lachen durch die Finsternis, die Alexei nun endgültig verschluckte…

Alexei erwachte durch seinen eigenen Schrei und saß aufrecht im Bett. Sein Herz raste und die Lungen schmerzten unter seinen heftigen  Atemzügen. Warum nur quälte ihn immer wieder derselbe Traum? Undefinierbare Gefühle der Sehnsucht und der Schmerz von Verlust ergriffen Besitz von ihm. Er strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, während sein Blick auf den Digitalwecker fiel. Die grün leuchtenden Ziffern sprangen gerade auf 17:18 Uhr. Höchste Zeit, aufzustehen.



1

Leon und sein Vater saßen gemeinsam mit ihrem potenziellen Geschäftspartner im Konferenzraum. Es kam nicht so oft vor, dass sie beide bei einem Angebot dabei waren, aber dieser Zenker hatte nicht gerade das, was man einen guten Ruf nannte. Also beobachtete Leon den Kerl ganz genau. Bevor er eingetreten war, hatte er vor der Glastür innegehalten und den Knoten seiner Designerkrawatte zurechtgerückt. Nun saß er da und Leon war gespannt, was der Typ zu sagen hatte. Zenker kämmte sich mit den Fingerspitzen durch das Haar, während er sich scheinbar interessiert umsah. Sein Blick blieb einen Moment an der auffälligen Kommode hängen, bevor er sich Leons Vater zuwandte.
„Das ist ein schönes Stück, das sie da stehen haben, Herr Bergmann. Ist das Teakholz?“, fragte er mit einem Kichern, das völlig fehl am Platz war, und gelbe, etwas schief stehende Zähne offenbarte. Leon fand, der Kerl hatte Ähnlichkeit mit einer Hyäne, so wie er den Kopf vorschob, während er die Schultern nach oben zog. Und dann dieses irre Kichern dazu.
Leons Vater schien sich nicht so daran zu stören und nickte stolz.
„Malaysia, Achtzehntes Jahrhundert“, bestätigte er mit leuchtenden Augen. „Zwei der Goldgriffe musste ich allerdings ersetzen lassen. Ich habe das bauchige Ding auf einer meiner Reisen gekauft.“
Leon lächelte und seine Gedanken schweiften kurz ab. An den Urlaub konnte er sich nur allzu gut erinnern. Es war der erste mit seiner Stiefmutter und auch einer der schönsten. Vater und Ines händchenhaltend am weißen Sandstrand, der Geruch des Meeres. In seinem Kopf hallten fröhliches Kinderlachen und das Kreischen der Möwen, als wäre es erst gestern gewesen. Leon war acht Jahre alt und in diesen Wochen wohl das glücklichste Kind auf der Welt. Vielleicht wäre er sogar noch glücklicher gewesen, hätte er nicht diese braune Badehose tragen müssen, auf der leuchtend gelbe Bananen abgebildet waren. Womöglich trug aber auch gerade diese Erinnerung dazu bei, dass der Urlaub so unvergessen geblieben war. Am letzten Tag hatte er die Bananenbadehose am Strand vergraben und vorgegeben, sie verloren zu haben.

Zenker räusperte sich, seine für einen Mann ungewöhnlich hohe Stimme riss Leon aus seinen Erinnerungen.
„Kommen wir zum geschäftlichen Teil, meine Herren.“ Wieder ein Hyänenkichern. „Ich möchte Sie nicht drängen, aber ich habe noch weitere Interessenten für das Haus. Ein solch lukratives Angebot bekommen Sie nicht alle Tage.“ Er entblößte seine gelben Zähne zu einem schleimigen Lächeln und kritzelte etwas auf einen Block, den er – zusammen mit einem Laptop - aus seiner Aktentasche entnommen hatte. Dabei zuckte er flatternd mit dem Bein, so dass der große Tisch und sein Laptop, das er gerade aufklappte, vibrierten. Leon warf seinem Vater möglichst unauffällig einen warnenden Blick zu, worauf er nickte. Sie verstanden einander auch ohne Worte, waren längst ein eingespieltes Team. Beruflich ebenso, wie privat.
„Geben Sie uns bis morgen Bedenkzeit, Herr Zenker“, bat er höflich. 

Zenker schüttelte energisch den Kopf, das Zucken seines Beines wurde stärker.
„Ich fürchte, Sie werden sich gleich entscheiden müssen. Ich treffe heute noch zwei weitere Interessenten.“
Leon straffte die Schultern und atmete tief ein. Der miese Typ log, dass sich die Balken bogen. Aber da war noch mehr als das schmutzige Geschäft, an das er die ganze Zeit gedacht hatte. So laut, dass Leon es nicht einmal hätte überhören können, wenn er es gewollt hätte. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Haus. Etwas, das über bloße Gebrauchspuren hinausging.
Bei der Besichtigung war nur sein Vater dabei gewesen, doch Leon konnte in diesem Augenblick trotzdem sehen, was hier faul war. Und zwar faul im wahrsten Sinne des Wortes.
Er war bereits vor einigen Minuten in Zenkers Geist eingedrungen, und brauchte nicht lange, um alles direkt vor sich zu sehen. Nur mit großer Mühe konnte er seinen Zorn zurückhalten.
„Ich würde gerne die oberen Stockwerke noch einmal sehen“, bemerkte Leon zähneknirschend und wunderte sich über die Ruhe in seiner Stimme. Zenkers Gesichtszüge entgleisten. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf das Holz des Konferenztisches, seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Aber warum denn das?“, stieß er schrill aus.  „Ich glaube kaum, dass dies nötig sein wird. Meine Mitarbeiterin hat Ihrem Vater bereits alles gezeigt.“ Er tat sich sichtlich schwer, die Contenance zu bewahren, und Leon hörte in seinem Kopf, was das Arschloch über das arme Mädchen dachte, das keinen blassen Schimmer davon hatte, was für ein Verbrecher ihr Chef war.

„Das sehe ich anders“, entgegnete Leon so ruhig, wie es seine Wut zuließ und lächelte so strahlend, wie Zenker zu Beginn ihres Gespräches. „Und wenn wir schon dabei sind - die rostigen, mit schlechter Farbe übermalten Wasserleitungen im Keller möchte ich auch sehen. Die brechen vermutlich auseinander, falls eine der Ratten da unten einen Furz lässt.“
Aus den Augenwinkeln sah Leon, dass die Schultern seines Vaters vor Lachen bebten. Die Hyäne schnappte nach Luft und ihre Augen verdunkelten sich, als würden Gewitterwolken darin aufziehen. In der Tat konnte Leon den Sturm schon spüren, als Zenker ihn noch gar nicht realisiert hatte. Armer Idiot. Er hatte sich einfach die Falschen ausgesucht.  Aber wie sollte er auch ahnen, dass Leon all die Dinge sehen konnte, die in seinem Kopf vorgingen.
Zenker zerrte an seiner Krawatte, als wäre sie eine Schlinge um seinen Hals.
„Ich versichere Ihnen, das sind alles Kleinigkeiten, die werden selbstverständlich noch instandgesetzt“, stotterte er wirr. Sein Hyänenkichern war ihm wohl im Hals stecken geblieben. „Wie kommen Sie überhaupt auf ...“
„Etwa wie der Dachboden?“, unterbrach Leon ihn. „Mein Vater berichtete mir, dass alles noch etwas frisch aussieht. Als wäre es … sagen wir … vorgestern mal eben mit Sandfarbe gestrichen worden?“
Zenker quollen die Augen aus den Höhlen, seine Unsicherheit schwand und ging nahtlos in Wut über.
„Jetzt reicht es aber! Glauben Sie, ich habe meine Zeit gestohlen?“ Er sprang vom Stuhl und griff nach seinem Block. „Das hab ich bestimmt nicht nötig.“
Oha, die Hyäne wurde zum Tiger. Leons Vater blickte Zenker ruhig an. Nur das Zucken in seinen Augenwinkeln verriet, dass er kaum noch an sich halten konnte.
„Beruhigen Sie sich doch, Herr Zenker. Mein Sohn hat Sie doch nur um eine klare Auskunft gebeten. Kein Grund, laut zu werden.“
„Von wegen um etwas gebeten!“ Zenker fuchtelte wild mit einer Hand herum und warf Leon einen wütenden Blick zu. „Das sind absurde Anschuldigungen! Mit solchen Leuten muss ich keine Geschäfte machen!“
Wieder eine glatte Lüge, aber die hätte jeder durchschaut, ganz ohne Gedankenlesen. Leon erhob sich nun ebenfalls.
„Auf Geschäfte mit Ihnen können wir verzichten“, sagte er unwirsch.  „Sehen Sie lieber zu, dass Sie ihren Arsch hier raus bewegen, bevor ich mich vergesse und Ihnen ihr Laptop hinein schiebe!“
„Leon.“ Sein Vater stand nun ebenfalls auf und warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Ist doch wahr!“
Zenker entgegnete nichts mehr. Er klappte den Laptop zu und stopfte ihn zusammen mit dem Block zurück in den Aktenkoffer. Mit großen Schritten war er bei der Tür und flüchtete ohne Gruß aus dem Konferenzraum.
„Dem ist der Arsch aber gewaltig auf Grundeis gegangen.“ Leon lockerte seine Krawatte und schüttelte seufzend den Kopf.  „Den sehen wir nicht wieder“, stellte er zufrieden fest.
Sein Vater musterte ihn über die Gläser seiner Lesebrille hinweg.
„Ich habe geahnt, dass mit dem Kerl etwas nicht stimmt. Was hast du in seinen Gedanken alles gelesen?“
„Eine Menge. Mir ist ganz schlecht davon.“ Leon imitierte Kotzgeräusche. „Er kauft halb verfallene Hütten und lässt sie durch Schwarzarbeiter dürftig sanieren. Die Schäden sind sehr geschickt vertuscht und ausgebessert worden. Er verwendet die billigsten Materialien, teilweise fehlerhafte Ware vom Schwarzmarkt. Natürlich will er die Projekte dann so schnell wie möglich loswerden, damit er sich aus dem Staub machen kann. Robert Zenker ist nur eines seiner Pseudonyme.“
Leons Vater stieß geräuschvoll die Luft aus.
„So ein Dreckskerl! Ich möchte wissen, wie viele Menschen dieser Gauner schon reingelegt hat.“
„Das willst du nicht, glaub mir. Aber nicht mit Bergmann Immobilien“, antwortete Leon. „Das weiß ich zu verhindern.“
„Ohne dein Eingreifen hätte ich das Haus womöglich gekauft“, stellte sein Vater betroffen fest. „Du bist unglaublich.“
Leon grinste. „Pass auf, sonst könnte ich mir noch was darauf einbilden.“
Sie lachten beide auf.
„Na komm, Mister Eingebildet. Wir haben einen Termin. Hoffentlich nicht noch so ein Verbrecher. Einer am Tag reicht vollkommen.“



****

Eine halbe Stunde später saßen Leon und sein Vater in ihrem gewohnten Geschäftsessen-Restaurant. Leon zupfte gedankenverloren an den Spitzen des Mitteldeckchens, auf dem eine Glasvase mit frischen Blumen stand. Das Restaurant war im Stil der dreißiger bis vierziger Jahre eingerichtet, an den Wänden prangten in Gold gerahmte Bilder von Ikonen dieser Zeit, wie Edith Piaf, Humphrey Bogard oder Hans Albers. Leon bevorzugte privat coolere Kneipen wie „Dee´s Bar“ oder das „Underground“, aber ihm war natürlich klar, dass man dort schlecht Geschäfte abschließen konnte. Außerdem konnte er sich seinen Vater nur schwer in einer Diskothek vorstellen, in der halbnackte Frauen zu Technomusik in Käfigen tanzten.
„Leon. Hörst du mir überhaupt zu?“
Leon zuckte zusammen und blickte ihn über den Tisch hinweg an.
„Entschuldige Vater, hast du was gesagt?“
„Ich sagte, dass ich sehr stolz auf dich bin und nicht wüsste, was ich ohne dich täte. Der Vorfall heute war ja wieder mal Beweis genug. Ich mach das Geschäft schon so lange, aber ich habe die Ausbesserungen wirklich nicht gesehen.“
Leon winkte ab und klappte die Speisekarte auf.
„Für irgendetwas muss meine Gabe ja schließlich gut sein“, antwortete er. „Zur Feier des Tages darfst du mich zum Essen einladen. Ich hab einen Riesenhunger.“ Sein Vater schüttelte belustigt den Kopf und wollte sich ebenfalls die Karte nehmen. Dabei stieß er zwei Weingläser um, die klirrend davon rollten. Eines davon wäre vom Tisch gefallen, wenn Leon es nicht gerade noch rechtzeitig gefangen hätte. Er grinste, während sich sein Vater peinlich berührt umsah, und das andere Glas wieder aufstellte. 
„Das ist nicht lustig, Leon“, sagte er streng, doch sein Tonfall wurde von einem Lächeln um die Mundwinkel gemildert.
„Vielleicht nicht lustig, aber typisch für dich. Du hättest dein Gesicht eben sehen sollen. Bleib doch cool, Mann.“
Sein Vater verdrehte die Augen und rieb sich den graumelierten Kinnbart.
Leon lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück.
„Wer ist eigentlich der Mann, der uns diesen Laden in der Oranienstraße verkaufen will?“
Sein Vater zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nur, dass er Serban Grigorescu heißt, mehrere Immobilien hier in Berlin besitzt, und im Stadtteil Grünwald lebt. Ich habe ein paar Mal mit ihm telefoniert. Sein Sohn wollte an seiner Stelle kommen, weil er selbst einen wichtigen Termin hat.“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „Er müsste jeden Augenblick da sein.“
Leon nickte und erhob sich.
„Würdest du mir bitte einen trockenen Weißwein und ein Glas Wasser bestellen? Wir sollten die Gelegenheit nutzen, solange die Gläser noch stehen. Ich bin gleich wieder da.“
„Das muss ich mir noch gut überlegen“, hörte er seinen Vater amüsiert antworten, während er sich bereits auf halbem Weg zu den Toiletten befand. Eine Bedienung kam ihm entgegen und lächelte ihm freundlich zu. Sie war hübsch, dunkle Locken umrahmten ihr zartes Gesicht. Leon spürte, dass sie nervös war und konnte nicht wiederstehen, ihre Gedanken zu lesen. Sie fand ihn süß … und sexy. Er grinste in sich hinein. Besonders gefielen ihr seine blauen Augen und die Art, wie er sein dunkles Haar trug. Wenn er an ihr vorbeigegangen war, wollte sie einen Blick auf seinen Hintern werfen. Leon lächelte zurück, worauf sich ihre Wangen rot färbten, dann unterbrach er rasch die Verbindung. Es war nicht fair, aber ab und zu musste er einfach wissen, was in den Köpfen der Menschen vorging. Vor allen Dingen beim weiblichen Geschlecht konnte er seine Neugier kaum zügeln.

Als Leon wenig später zurückkam, saß sein Vater nicht mehr allein am Tisch. Er unterhielt sich mit einem Mann, der nun aufsah und Leons Blick entgegnete. Der Typ war ungewöhnlich blass, eine geheimnisvolle Aura umgab ihn. Leon war jetzt schon gespannt auf seine Gedanken. Seltsamerweise war ihm, als wäre er ihm schon einmal begegnet, doch an so einen Kerl würde er sich mit Sicherheit erinnern. Trotz seiner Blässe sah er aus, wie einer dieser Typen, die für Unterwäsche oder Parfüm warben. Seine Gesichtszüge waren weich und doch wirkte er sehr männlich. Sein blondes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden, gekleidet war er in einen cremefarbenen Anzug und ein schwarzes Hemd. Leons kleine Schwester wäre sicherlich hin und weg von ihm gewesen.
„Darf ich dir Alexei Grigorescu vorstellen? Seiner Familie gehört das Objekt, er wird es uns nachher zeigen. Herr Grigorescu, das ist mein Sohn Leon. Er ist auch mein Geschäftspartner.“ Sein Vater blickte zwischen ihnen hin und her.
„Guten Tag, Herr Grigorescu.“ Leon streckte die Hand aus.
Alexei Grigorescu erhob sich kurz und erwiderte den Gruß. Seine Hand war kühl, er besaß einen kräftigen Händedruck.
„Freut mich, Herr Bergmann“, erwiderte er mit einem Lächeln, das ebenmäßige, weiße Zähne entblößte. Seine Stimme klang sehr  tief, aber angenehm. Aus reinem Instinkt heraus unternahm Leon ohne Umschweife den Versuch, in seinen Geist einzudringen. Schneller als er erwartet hatte, entstand eine Verbindung, doch plötzlich sah ihn der Kerl mit einer Mischung aus Erstaunen und Überraschung an, in seinen grünen Augen blitzte es auf. Leon spürte einen unsichtbaren Schutzwall, der sich um Grigorescus Geist legte. Es war nun unmöglich zu sehen, was in seinem Kopf vorging.

Erschrocken und etwas irritiert war Leon froh, als sich sein Vater sofort nach dem Gebäude erkundigte. Die Bedienung kam an den Tisch und nahm die Bestellung auf. Ihre Gedanken konnte Leon sofort wieder lesen und was sie über Alexei Grigorescu dachte, war nicht mehr jugendfrei. Sie verdrehte sich fast den Hals nach ihm, als sie ging, um die Bestellung abzuliefern.
Während des Essens lag der Schwerpunkt der Unterhaltung auf dem Immobiliengeschäft und Leon überlegte, ob er einen weiteren Versuch unternehmen sollte, in Grigorescus Geist einzudringen. Vielleicht hatte er sich vorhin nur eingebildet, er würde ihn mental abblocken? Wahrscheinlich war er nur unkonzentriert. Bisher war es Leon immer gelungen, sich auf telepathischem Weg in die Gedankengänge der Leute einzuschleichen. Grigorescu war offensichtlich ein hartnäckiger Fall.

Nach dem Essen gingen sie zusammen die Papiere und Pläne durch und unterhielten sich ungezwungen über verschiedene Themen. Die Grigorescus besaßen mehrere Grundstücke und Gebäude in Berlin und im Ausland, die sie vermieteten und auch teilweise zum Kauf anboten. Während des Gesprächs spürte Leon eine merkwürdige Spannung. Grigorescu schien unnahbar und geheimnisvoll – und er beobachtete Leon, wenn er dachte, er würde es nicht bemerken. Hatte er den mentalen Angriff auf seine Gedanken doch bemerkt?

„Und so haben wir uns entschlossen, das Gebäude zu verkaufen“, sagte Alexei gerade, während sein stechender Blick auf Leon traf. Dieser hob sein Glas und fixierte rasch das gerahmte Schwarzweißbild von Hans Albers.
„Er war ein begnadeter Schauspieler“, bemerkte Alexei, der Leons Blick gefolgt war. „Ich habe ihn einmal in Hamburg getroffen.“ Er nippte an seinem Rotwein und grinste. „Ist jedoch schon eine ganze Weile her.“
Leons Vater lachte über den Witz, und auch Leon konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Leben sie schon immer in Berlin, Herr Grigorescu?“
„Ursprünglich stammen wir aus Rumänien, wir kamen hierher, als ich noch ein Kind war.“
 Während er sprach, hörte Leon in seinem Kopf eine Stimme flüstern.
,Du bist hinreißend … und wunderschön.
Leon sah sich überrascht um und runzelte die Stirn. Wessen Gedanken hatte er denn jetzt schon wieder versehentlich gelesen? Und wer redete heute noch so geschwollen daher? Am Tisch neben ihnen saß ein älteres Paar. Links davon in einer Ecke tuschelten drei Damen, die aussahen, als kämen sie gerade von einem Treffen der unbefriedigten Hausfrauen. Sie tranken Prosecco und rauchten Kette. Leon versuchte sich zu konzentrieren, wurde jedoch von seinem Vater unterbrochen.

„Von mir aus können wir uns das Gebäude jetzt gleich ansehen, Herr Grigorescu. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit meinem Sohn schon mal vorzufahren? Ich muss noch kurz etwas erledigen.“
„Kein Problem. Sollen wir, Herr Bergmann?“ Alexei musterte Leon. Dieser blickte kurz irritiert zu seinem Vater, nickte jedoch.
„Ähm… ja, warum nicht.“
„Lass dich von Herrn Grigorescu schon mal herumführen, ich komme sofort nach.“  Er ließ Leon gar keine Zeit zu antworten, schnappte seine Autoschlüssel vom Tisch und nickte ihnen zu. „Kümmern Sie sich nicht um die Rechnung, die ist schon bezahlt. Bis gleich, ich beeile mich!“, rief er hektisch über seine Schulter und schon war er verschwunden.
„Ist ihr Vater immer so impulsiv?“, erkundigte sich Grigorescu amüsiert. Leon zuckte mit den Schultern und lächelte schief. Der Typ war irgendwie seltsam. Er konnte höchstens vier oder fünf Jahre älter sein als Leon - also vielleicht dreißig - aber er drückte sich aus, als stamme er aus dem vorletzten Jahrhundert. Mit einem Mal war ihm eigenartig warm und er war froh, als sie kurz darauf auf die Straße hinaus traten.


Viele Menschen nutzten den ungewöhnlich warmen Spätsommerabend zu einem Spaziergang und so waren die Straßen gesäumt von schlendernden Pärchen, lachenden Kindern und Grüppchen von Jugendlichen. Alexei zog eine dunkle Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Jacketts.
„Kommen Sie, mein Wagen steht dort hinten.“ Er deutete mit einer einladenden Geste die Straße hinunter und setzte die Brille auf. Leon grinste in sich hinein. Die Sonne war nicht mehr so stark, dass man eine Sonnenbrille brauchte, doch wahrscheinlich wollte er auf cool machen. Kurz darauf saßen sie in Grigorescus silberfarbenen Audi R8 auf dem Weg zu dem leer stehenden Geschäftsgebäude. Unterwegs sprachen sie kaum ein Wort und Leon war froh darüber. Er fühlte sich seltsam in der Nähe dieses Typen. Fremdartige Schwingungen umgaben ihn, die Leon nicht deuten konnte. Die Tatsache, dass seine mentalen Fähigkeiten bei ihm nicht funktionierten, machte ihn langsam nervös. Leon hatte eine dunkle Vorahnung, was dies bedeuten konnte.

Alexei schloss die Tür auf und bedeutete Leon, vor ihm einzutreten. Als Leon an ihm vorbei ging, stieg ihm ein angenehmer Duft in die Nase. Noch nie zuvor hatte er auf das After Shave eines anderen Mannes geachtet, geschweige denn, es überhaupt wahrgenommen. Erneut fragte er sich, warum er Grigorescus Gedanken nicht lesen konnte.
,Weil Sie nicht alles wissen müssen, Leon. Übrigens ist der Duft von Karl Lagerfeld.’
Leon stockte der Atem und er fuhr erschrocken herum. Alexei war gerade damit beschäftigt, die Tür abzuschließen.
„Ich hoffe das Tageslicht, das durch die Fenster dringt, genügt Ihnen. Der Strom ist bereits abgeschaltet“, sagte er und wandte sich zu Leon um. Dieser starrte ihn perplex an.


Buch Trailer Eine riskante Mission